Unsere Kinderärztin und Psychotherapeutin,
Frau Ewa Janas-Schroeteler, informiert:
Nach heutiger Auffassung ist die relativ häufig vorkommende Aufmerksamkeitsstörung (ADS) das Resultat einer biologischen Funktionsstörung im Bereich der Informationsverarbeitung zwischen einzelnen Hirnabschnitten.
Ältere Bezeichnungen für das gleiche Krankheitsbild sind u.a. die „frühkindliche leichte Hirnschädigung", das „Psychoorgane Syndrom (POS)" oder das „Hyperkinetische Syndrom (HKS)". In Amerika hat sich seit 15 Jahren der Ausdruck „Attention Deficit (Hyperactivity) Disorder (ADD)" durchgesetzt, der nun zunehmend weltweit zur Anwendung kommt.
Die Störung beschränkt sich keineswegs nur auf das Kindesalter und das Erscheinungsbild ist vielfältig: Es reicht vom bekannten Zappelphilipp über brav träumerische Mädchen („les enfants lunatiques"), depressiv orientierungslose Jugendliche, gewisse Suchtabhängige und Gesetzesbrecher, sowie unstete impulsive, aber auch depressive Erwachsene bis zum hochbrillanten zerstreuten Professor!
Man nimmt an, daß bei der Aufmerksamkeitsdefizitstörung im komplizierten
Zusammenwirken verschiedener Hirnabschnitte im Bereich der Schaltstellen
einzelner Hirnzellen (den Synapsen) die verantwortlichen Überträgerstoffe
(Neurotransmitter) nicht optimal wirken, d.h. es handelt sich in einem
gewissen Sinn um eine Stoffwechselstörung im intrazellulären Bereich. Moderne
Untersuchungsmethoden (z.B. die PET = Positron-Emissions-Tomographie) des
Gehirns haben entsprechend gezeigt, daß diese Funktionsstörungen vor allem in
denjenigen Gehirnabschnitten vorkommen, die für die Aufmerksamkeit,
Konzentration und Wahrnehmung, d.h. die Aufnahme und Verarbeitung von
Informationen und Sinneseindrücken verantwortlich sind, vorwiegend also in den
sogenannten Stammganglien und im Frontalhirn. Diese Störungen erklären die
bekannten Verhaltensstörungen im Kindesalter und/oder unerklärlich sinkende
Schulleistungen. Sekundär kommt es so häufig zum Schulversagen (eventuell erst
im Gymnasium oder an der Universität!), zum Außenseitertum bei den Kameraden,
zur ständigen Sündenbockrolle in der Familie, später eventuell zu dissozialem
Verhalten, Suchtentwicklungen oder gar zu kriminellen Entgleisungen. Die vor
allem bei Knaben auffallende motorische Hyperaktivität („Zappelphilipp!") kann
mit der Zeit nachlassen, wobei dies nicht heißen muß, daß die tiefgreifende
Störung nun verschwunden ist. Über die neurobiologische, d.h. primär organische
Ursache des ADS besteht heute kaum mehr ein Zweifel. Ursächlich im Vordergrund
steht wahrscheinlich eine bis heute noch nicht genau bekannte genetische
Veranlagung, sind doch nicht selten Geschwister, Eltern oder andere Verwandte
ebenfalls mehr oder weniger betroffen. Die früher angeschuldete perinatale
Hirnschädigung („Sauerstoffmangel" bei der Geburt) ist nur selten eindeutig die
Ursache, Nahrungsmittelallergien oder - unverträglichkeiten können eventuell
eine bestehend motorische Hyperaktivität verschlimmern, sind aber nicht die
Ursache des ADS.
Obwohl der Frankfurter Arzt Hoffmann bereits im 19. Jahrhundert in seinem „Struwwelpeter" mit dem Zappelphilipp und Hans Guck in die Luft charakteristische ADS- Symptome beschrieben hat, werden heute ADS-Patienten immer noch fälschlicherweise als Opfer unserer Zeit, einer falschen (antiautoritären) Erziehung, einer fehlgeleiteten Ernährung (fast food und Coca Cola...!) und anderer widriger Umstände bezeichnet. Dies soll nicht heißen, daß moderne Umweltfaktoren wie das Leistungsstreben in der Schule, die allgemeine Hektik und der Überfluß an Freizeitaktivitäten das Leben der ADS-Patienten nicht deutlich erschweren können!
Als HAUPTSYMPTOME der ADS-STÖRUNG sind altersunabhängig folgende Merkmale immer vorhanden:
Als FAKULTATIVE SYMPTOME (durch mangelhafte Steuerungsmöglichkeiten) stehen im Vordergrund:
Alle diese Primärsymptome sind unterschiedlich ausgeprägt und sollten beim ADS-Patienten in der Regel vor dem 7. Lebensjahr aufgetreten sein und während mindestens 6 Monaten angedauert haben. Ähnlich imponierende, vorübergehende und meist reaktive Teilstörungen sind bekanntlich häufig und müssen von einem ADS deutlich abgegrenzt werden!
Bei starker Ausprägung und Andauern dieser Primärsymptome kann es im weiteren Verlauf häufig zu den folgenden (z.T. reaktiven) Sekundärsymptomen kommen:
Die Leistungen entsprechen also nie der eigentlichen Intelligenz. Sehr intelligente Kinder können überdies ihre ADS-Primärsymptome bis ins Gymnasium oder Berufsleben kompensieren.
Störung der sozialen und familiären Interaktion und Integration (evtl. auch verstärkt, wenn ein Elternteil selbst ein unbehandeltes ADS aufweist), soziale Isolierung, später gehäuft Alkohol- und Drogenmißbrauch (Selbstheilungsversuch mit falschen Mitteln??), Kriminalität, reaktive Depression, außerordentlich stark vermindertes Selbstwertgefühl.
Durch persistierende Mißerfolgserlebnisse kann es zu einem eigentlichen Teufelskreis kommen, wie dies in Lübeck für Kinder zusammengestellt wurde:
Familie
Enttäuschung | Versagensgefühle | Tadel | Mißerfolgserwartung |
ADS-Kind
Aufmerksamkeitsstörung | Außenseiter | Verlust des Selbstwertgefühls | Sek. Neurotisierung |
Umwelt/Schule
Schlechte Schulleistungen | Tadel
Mißerfolgserwartungen
Drohender Schulverweis |
Für den ADS-Patienten ist es außerordentlich wichtig zu wissen, daß er primär nicht neurotisch, psychotisch, weniger intelligent, milieu- oder hirngeschädigt bzw. einfach faul ist (wie er dies z. T. immer wieder zu hören bekommen hat). Schon die Feststellung, daß er ein biologisch verursachtes Funktionsproblem im Bereich der Steuerung von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung hat, ist für ihn als Erklärung seiner vielfältigen Probleme außerordentlich wichtig. Im Bereich der Aufmerksamkeitsleistung ist die Hinwendung auf eine bestimmte (häufig von außen geforderte!) Sache, das Fokussieren auf bzw. das Filtrieren bestimmter Wahrnehmungseindrücke gestört. Man kann sagen, daß primär eine „Input"-Störung besteht, d.h. es wird weniger als normal aufgenommen, und dies wird sowohl langsamer als auch ungenauer verarbeitet. Zudem kommt es zu einer rascheren Ermüdung (d.h. der ADS-Patient kommt viel rascher in „Streß" mit evtl. plötzlichem „black out"). Bei vielen Lernprozessen sowohl im schulischen wie auch im sozialen Bereich zeigt sich die ADS-Störung im Bereich der Gedächtnisbildung mit einer auffallend langen Verarbeitungszeit. Die Aufnahmekapazität im Bereich des Kurzzeitgedächtnisses ist erheblich vermindert und kann vor allem beim Erlernen des Lesevorganges und in der Rechtschreibung zu großen Schwierigkeiten führen. Der ADS-Patient lernt im sozialen Bereich nicht aus begangenen Fehlern! Kompensatorisch zeigen aber viele ADS-Patienten z.T. erstaunliche Teilfähigkeiten (Bastler, Tüftler, Computerfreak, Schachgenie etc...) und eine feine Sensibilität/ Intuität, die die Diagnose ungemein erschweren können!
Die DIAGNOSE der Aufmerksamkeitsdefizitstörung läßt sich v. a. durch die Lebensgeschichte (Anamnese) des betroffenen Kindes, Jugendlichen oder Erwachsenen stellen. Das z. T. in der Schweiz noch gängige „POS-Konzept" mit einer Geburtsschädigung und dem Nachweis einer zusätzlichen leichten zerebralen Bewegungsstörung ist heute nicht mehr haltbar. So kommt es, daß viele behandlungsbedürftige ADS-Patienten nicht erkannt und adäquat behandelt werden, vor allem dann, wenn die motorische Hyperaktivität fehlt. Ergänzend zur Anamnese haben sich Fragebögen in unterschiedlichem Ausmaß bewährt. Neben einer gründlichen körperlichen und neurologischen Untersuchung kommen verschiedene neuropsychologische Testuntersuchungen zur Durchführung. Leider ist dabei heute noch kein einheitliches Vorgehen zu erkennen, ein EEG (Hirnstromableitung) ist i.d.R. nicht notwendig. Objektiver sind z.T. computergesteuerte Testprogramme, die die Konzentrationsfähigkeit, die Ablenkbarkeit und das Vermögen, einfache Lernstrategien zu entwickeln, prüfen können. Aber auch diese Tests sind für eine Diagnose nicht immer beweisend.
Die BEHANDLUNG DES ADS-PATIENTEN kann einfach und so dramatisch hilfreich, auf der anderen Seite aber wiederum sehr schwierig sein.
Da es sich beim ADS mit großer Wahrscheinlichkeit um eine eigentliche Stoffwechselstörung im Bereich des Neurotransmittersystems des zentralen Nervensystems handelt, sind sich heute eigentlich die meisten Fachleute darüber einig, daß in ausgeprägten Fällen in erster Linie eine medikamentöse Behandlung erforderlich ist. Obwohl noch viele Unklarheiten bestehen (und es wahrscheinlich auch so bleiben wird, da es ungewiss ist, daß wir je das überaus komplexe und faszinierende Organ Gehirn mit seinen mehr als hundert Milliarden vernetzten Zellen verstehen werden) ist die medikamentöse Behandlung mit sogenannten Stimulantien seit 1937 (!) bekannt und richtig verabreicht in vielen Fällen auch überaus erfolgreich. Zudem gibt es zunehmend Hinweise, daß eine korrekt durchgeführte kontinuierliche Behandlung zu einer Nachreifung ( evtl. Ausheilung?) der ADS-Störung führen kann.
Die Stimulantien (v. a. Ritalin und d-Amphetamin) wirken im Bereich der Synapsen und verlängern dort die Wirkdauer der körpereigenen Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und evtl. auch Serotonin. Die Funktion der nicht optimal wirkenden Neurotransmitter wird also normalisiert. In einem gewissen Sinn erinnert dies etwas an die Zuckerkrankheit, wo das fehlende Insulin den Glukosestoffwechsel in Ordnung bringt.
Die Medikamentenmenge, sowie deren Wirkdauer ist von Patient zu Patient sehr unterschiedlich und muß individuell herausgefunden werden. In einer mehrwöchigen Einstellphase der Behandlung sind bei Kindern Rückmeldungen bzgl. Wirkung durch die Lehrer und die Eltern überaus wichtig. Ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene spüren und beschreiben die Wirkung selbst: „Endlich ist der Filter weg"; „ich sehe klar"; „die innere Unruhe ist weg"; „jetzt weiß ich endlich, was Freude im Leben bedeutet". Auch bei Kindern ist die positive Wirkung häufig dramatisch: das Schriftbild normalisiert sich von einem Tag zum anderen, statt zu kritzeln beginnt der Kindergärtler erstmals zu zeichnen, das Diktat kann nun gelernt und korrekt wiedergegeben werden, der Notendurchschnitt steigt rasch an, das Kind wird von anderen Kindern wieder akzeptiert und rasch sozial integriert. Das Kind hat endlich Erfolgserlebnisse und „gleich lange Spieße" wie seine Kameraden. Es ist wichtig, daß bei erfolgreicher Behandlung diese möglichst während der ganzen Wachheitsphase durchgeführt wird. Dies führt dazu, daß z.T. 3 oder 4 Dosen pro Tag gegeben werden müssen, in einzelnen Fällen hat sich eine länger wirkende Retardform aus den USA sehr bewährt. Da durch die medikamentöse Therapie die Wahrnehmungsfunktionen im weitesten Sinne normalisiert werden (das Gehirn bekommt eine „innere Brille"!), hat der ADS-Patient nun wie alle anderen auch die Voraussetzung, Verhaltensstrategien, soziale und andere Lernprozesse zu erlernen. Auch für ihn lohnt es sich, sich nun anzustrengen, die bisherigen Mißerfolge bleiben nach und nach aus und die aufgebauten Vermeidungsstrategien verschwinden mit der Zeit. Vor allem dann, wenn relativ spät behandelt wird, können sich eingefahrene Verhaltensmuster in der Schule, Familie oder am Arbeitsplatz noch lange störend auswirken und müssen genau analysiert und vorwiegend verhaltestherapeutisch behandelt werden.
Während früher Medikationspausen am Wochenende und in den Ferien empfohlen wurden, ist nach heutigen Erkenntnissen eine kontinuierliche Behandlung vorzuziehen, da eine Nachreifung oder Ausheilung dieser Stoffwechselstörung bei genügend langer ununterbrochener Behandlung in vielen Fällen zu erwarten ist (es erfolgt dadurch ja wahrscheinlich eine normale „Vernetzung"). Zudem sind die sozialen Lernprozesse ja nicht nur auf die Schule oder den Arbeitsplatz beschränkt!
Nebenwirkungen der Stimulantientherapie bestehen v. a. in nicht bedrohlichen Appetitstörungen und im Einzelfall recht lästigen Einschlafstörungen. Spätschädigungen oder Abhängigkeiten sind auf Grund der langjährigen Erfahrung und Kenntnis dieser Behandlung nicht bekannt geworden. Bei korrekter Medikation profitieren die meisten ADS-Patienten, wobei das Ansprechen recht unterschiedlich ist. Da im Einzelfall erst ein Behandlungsversuch zeigt, ob und wie gut die Medikamente wirken, ist mitunter im Zweifelsfall ein entsprechender Versuch gerechtfertigt. Natürlich wird nur beim Vorliegen einer deutlichen ADS-Symptomatik medikamentös behandelt, wobei verschiedene Faktoren eine Rolle spielen können. Im Vordergrund steht sicher der Leidensdruck des ADS-Patienten. Zu lange ist in vielen Fällen die Odysee nicht oder falsch behandelter, zu groß das Leid nicht oder zu spät erkannter Kinder oder Erwachsener, bzw. betroffener Familien. Da durch eine frühzeitige Behandlung häufig schwerwiegende Folgen vermieden oder vermindert werden können, ist die medikamentöse Therapie eigentlich auch eine vorbeugende Maßnahme.
Neben der medikamentösen Basisbehandlung sind häufig zusätzliche Maßnahmen und Therapien nötig, bzw. meist erst durchführbar! Je nach Alter kommen dabei v.a. in Frage:
Wichtig: Ohne eine exakte medikamentöse Einstellung sind alle oben beschriebenen Maßnahmen leider oft wenig effektiv oder gar unmöglich!
weitere interessante Infos im Internet:
eine kritische Stellungnahme aus den USA (englisch)
neuere Verlautbarung der Bundesärztekammer
Sammlung weiterer relevanter Links:
http://www.zentrales-adhs-netz.de (BMG)
http://www.bv-ah.de (Elternverband ADHS)
http://www.ag-adhs.de (Arbeitsgemeinschafts ADHS)
http://www.mehr-vom-tag.de (Firma Janssen-Cilag)
http://www.info-adhs.de (Firma Lily)
http://www.medice.de/medice/p/medikinet/adhs/default.asp (Firma Medice)
Auch steht Ihnen Frau Ewa Janas-Schroeteler (ejs@kinderpraxis-juelich.de) bei weiteren Fragen gerne zur Verfügung ...
zuletzt aktualisiert am 30.08.2011 (EJS)